Pflichtgefühl & Rücksicht Loslassen

01.05.25 07:28 PM - Von Leif Tietje

Zwischen Pflichtgefühl und Rücksicht – wenn du im Funktionsmodus feststeckst

Funktionieren oder führen – was ist der Unterschied?

Viele von uns kennen das Gefühl: Man ist pflichtbewusst, engagiert, denkt an alles – und vor allem an alle. Doch während man Deadlines einhält, Erwartungen erfüllt und immer Rücksicht nimmt, bleibt eines oft auf der Strecke: die eigene Stimme.

So geht es Julia. Sie ist Projektleiterin – zuverlässig, empathisch, teamorientiert. Auf dem Papier: vorbildlich. Im Alltag: zerrissen.

Julia funktioniert – aber sie lebt nicht.

Was so drastisch klingt, ist für viele Alltag. Denn wir sind darauf trainiert, zu leisten, nicht zu hinterfragen. Wer dabei auf der Strecke bleibt? Wir selbst.

Drei Stimmen, ein Dilemma – die unsichtbare Steuerung in dir

Julia spürt es jeden Tag: In ihr arbeiten drei Stimmen gleichzeitig. Keine davon ist „falsch“ – aber auch keine ist wirklich ihre eigene.

🟦 Ordnung: „Mach es richtig – und bitte ohne Fehler.“

🟦 Politeness: „Stell dich nicht zu sehr in den Vordergrund.“

🟦 Empathie: „Achte darauf, wie es den anderen geht.“

Diese inneren Anteile sind typisch für Menschen, die im Funktionsmodus leben. Sie helfen, im System zu bestehen – aber sie hindern daran, sich wirklich zu entscheiden.

Fallbeispiel: Wenn Verantwortung zur Selbstverleugnung wird

Julia steht vor einer Entscheidung: Sie könnte ein Projekt radikal vereinfachen – zum Wohle des Unternehmens. Aber:

  • Was wird der Vorstand denken?
  • Wird sich das Team übergangen fühlen?
  • Könnte jemand verletzt sein?

Sie analysiert. Sie wägt ab. Sie nimmt Rücksicht – bis sie selbst nicht mehr sichtbar ist. Ihre eigentliche Haltung kommt nicht zur Sprache. Denn in ihrem Kopf schreien Ordnung, Politeness und Empathie durcheinander. Nur eine bleibt still: ihre eigene Stimme.

Im Coaching erkennt sie: Nicht sie ist das Problem – sondern die überaktive Steuerung durch diese inneren Stimmen.

Exkurs – Warum Selbstoptimierung oft das Gegenteil bewirkt

Viele meinen, das Problem sei mangelnde Effizienz oder schlechte Selbstorganisation. Also wird optimiert: To-Do-Listen, Time-Blocking, mehr Disziplin.

Doch hier liegt der Irrtum: Du kannst dich nicht aus einem inneren Konflikt herausorganisieren. Denn dein System „funktioniert“ längst – es blockiert nur deine Freiheit.

Was du brauchst, ist keine neue Methode. Sondern ein neues Verständnis deiner inneren Dynamik.

Wie du erkennst, ob du nur funktionierst

Typische Anzeichen für den Funktionsmodus:

  • Du triffst selten Entscheidungen ohne Rücksicht auf andere.
  • Du hast Angst, Erwartungen nicht zu erfüllen.
  • Du fühlst dich innerlich erschöpft – obwohl du nichts „Schlimmes“ erlebt hast.
  • Deine Meinung kommt dir oft zweitrangig vor.
  • Du hast selten das Gefühl, wirklich bei dir zu sein.

Selbstreflexion: Bist du noch im Funktionsmodus?

Stelle dir diese Fragen – schriftlich, ehrlich, ohne Filter:

    1. Wann habe ich zuletzt eine Entscheidung nur für mich getroffen?
    2. Wessen Erwartungen bestimmen meinen Alltag?
    3. Was würde ich tun, wenn ich keine Rücksicht nehmen müsste?
    4. Welche Stimme in mir ist am lautesten – und welche fehlt?

📌 Mini-Handlungsschritt: Nimm dir heute 15 Minuten. Geh spazieren, ohne Musik, ohne Ablenkung. Stelle dir nur eine Frage: „Was will ich eigentlich gerade?“ Und lausche der Antwort – auch wenn sie leise ist.

Der Weg raus: Deine Stimme zählt

Veränderung beginnt nicht mit Selbstoptimierung – sondern mit Verständnis. Wenn du erkennst, dass du nicht „falsch“ bist, sondern nur zu stark auf bestimmte Persönlichkeitsanteile hörst, entsteht neue Klarheit.

Und du wirst merken: Empathie, Ordnung und Rücksicht sind wertvoll – solange sie dich nicht dominieren.

Fazit – Du darfst du sein

Julia ist kein Einzelfall. Sie steht für viele, die Leistung bringen, Verantwortung tragen und trotzdem das Gefühl haben, sich selbst zu verlieren.

Doch: Verstehen verändert. Es entlastet. Es schafft Raum. Und es bringt dich wieder in Verbindung mit deiner eigenen Stimme.

Denn du darfst nicht nur funktionieren. Du darfst führen – dich selbst zuerst.

Leif Tietje